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Florians ME/CFS-Zeitungsinterview aus der Passauer Neuen Presse

Die Verwunderung war groß unter meinen Followern auf Instagram: Warum steht im Zeitungsinterview nichts von den Low Dose / Off-Label Medikamenten Abilify und Naltrexon? Die haben doch wesentlich zur Besserung beigetragen! Der veröffentlichte Zeitungsartikel wurde in der Endfassung leider um einige wesentlichen Teile gekürzt. Daher hier die Vollversion!


Ursprünglich in gekürzter Fassung veröffentlicht von der Passauer Neuen Presse (PNP) am 10. Mai 2023


Screenshot vom Original-Zeitungsartikel der PNP.

Raus aus dem toten Winkel

Dass es – obwohl die Erkrankung bisher als nicht ursächlich heilbar eingestuft wird – immer wichtig ist, die Hoffnung auf Gesundung nicht aufzugeben, zeigt das Beispiel des heute 37-jährigen Projektmanagers, der in unserem Interview über seinen Genesungsweg berichtet. Der junge Mann aus München war 2018 sehr schwer an ME/CFS, Myalgischer Enzephalomyelitis, besser bekannt als Chronic Fatigue Syndrom, erkrankt und hat sich mit viel Engagement und der großen Unterstützung seiner Angehörigen und Freunde zurück ins Leben gekämpft. Hauptsymptom der organischen Multisystemerkrankung ist die enorm verlängerte Erholungszeit nach geringfügiger Belastung, genannt Post-Exertional Malaise (PEM). An ihren schlechten Tagen sind Patienten häufig zu erschöpft, um die banalsten Dinge zu tun. Sie müssen nach jeder kleinsten Anstrengung eine längere Pause machen, sei es nach dem Gang zum Kühlschrank oder zur Toilette. Dass Florian Schießl sich heute als weitgehend geheilt und für diese Erkrankung ungewöhnlich stabil bezeichnet, verdankt er vielen unterschiedlichen Puzzleteilchen, die er in seinem Blog www.cfsistkeineidylle.me  detailliert erläutert, um anderen Betroffenen Mut zu machen. Auch auf Instagram erzählt er seine Geschichte, und er wird von einigen seiner über 1000 Followern als der „Pacing-Papst“ (Pacing bezeichnet eine ausgeklügelte Balance von Ruhe und Aktivität, siehe unten) gesehen. All das tat Schießl bislang unter dem Pseudonym „Flosch“, da er es vorzog, anonym zu bleiben. Dass er nun zum ersten Mal mit vollem Namen und Foto an die Öffentlichkeit tritt, war kein einfacher Entschluss für ihn. Doch ähnlich wie die bekannte Publizistin und Politikerin Marina Weisband, die kürzlich ihre eigene ME/CFS Erkrankung in einer YouTube-Serie öffentlich gemacht hat und fundierte Informationsvideos zum Thema anbietet, will er die Krankheit endlich aus dem „toten Winkel“ herausholen, in dem sie für Gesellschaft und die Mehrheit der Mediziner immer noch ist. Es sei, so Schießl, einfach authentischer und kraftvoller, dafür auch mit seiner ganzen Person einzustehen.

Florian Schießl fährt Ende 2020 im Rollstuhl an der Schwarzach bei Rötz (Lkr. Cham) entlang. Zuvor konnte er 15 Monate nicht das Bett verlassen.

1. Herr Schießl, Sie gerieten nach zwei viralen Infekten aus voller Schaffenskraft heraus in einen Zustand, in dem Sie für eineinhalb Jahre bettlägerig waren und Pflegestufe 4 hatten. Wie kann man sich da einen typischen Tagesablauf vorstellen?

Ich musste vom Pflegedienst im Bett gewaschen werden, Essen wurde vorgeschnitten, Schlafen klappte oft nur mithilfe von Medikamenten, Gespräche an schlechten Tagen nur mit Gestik und Mimik, da selbst reden zu anstrengend war. Möglich war da nur, leise Musik, Fantasiereisen oder Naturgeräusche aus Spotify zu hören und aus dem Fenster zu sehen, sowie Atemübungen oder Herzkohärenztraining zu machen. Auch das Gupta-Programm, ein Training mit dem man versucht, krankheitstabilisierende Gedankenmuster im Gehirn durch neue, gesundmachende zu ersetzen, hat mir sehr geholfen. Ohne größere Erfolge probierte ich therapeutisch u.a. Sauerstoff- und Physiotherapie, Osteopathie und Aufbauinfusionen.

So entsteht ein Teufelskreis aus Entzündung im Gehirn, die den Bereich der Amygdala aktiviert und uns in den Kampf-Flucht-Modus versetzt. Dies führt zu Symptomen, die wiederum einen Alarmzustand an die Amygdala zurückmelden.

2. Welche Ursachen haben Ihrer Meinung nach zu diesem heftigen ME/CFS-Ausbruch geführt?

Ich denke, es war die Kombination von viralen Infekten und Stress. Die Polyvagaltheorie geht davon aus, dass zu viel Gesamtbelastung das autonome Nervensystem aus der Balance bringen kann, so dass der Körper, wie bei anderen Autoimmunkrankheiten auch, überreagiert. So entsteht ein Teufelskreis aus Entzündung im Gehirn, die den Bereich der Amygdala aktiviert und uns in den Kampf-Flucht Modus versetzt. Dies führt zu Symptomen, die wiederum einen Alarmzustand an die Amygdala zurückmelden. Dieses Krankheitsmodell halte ich persönlich für stimmig.

3. Neueste Forschungen belegen, dass ME/CFS eine organische Multisystemerkrankung ist, obwohl sie häufig als rein psychosomatisch fehlgedeutet wird. Dennoch ist natürlich auch die Psyche bei so vielen körperlichen Einschränkungen mit betroffen. Was hat Ihnen persönlich geholfen, in dieser Zeit nicht zu verzweifeln?

Interessanterweise waren es gerade die Eigenschaften, die mich vermutlich überhaupt erst in diese schwere Krise gebracht haben, die mir halfen, wieder herauszukommen.  Leistungsorientierung, Perfektionismus und mein Kämpferherz. Ich sagte mir: „Mein einziger Job ist jetzt, gesund zu werden“ und „Aufgeben kann ich später immer noch. Wollen doch mal sehen, wer hier gewinnt, ich oder die hinterfotzige Krankheit“. Gute Rahmenbedingungen haben mir geholfen, das Pacing zu perfektionieren. Viel Verständnis und größte Unterstützung von meiner Familie, meiner Partnerin und Freunden erlaubten mir, mich nur um mich selbst zu kümmern. Dazu gehörte auch das bewusste Arbeiten daran, den Körper wieder in einen entspannten, parasympathischen Zustand zu bekommen.

„Aufgeben kann ich später immer noch. Wollen doch mal sehen, wer hier gewinnt, ich oder die hinterfotzige Krankheit“

4. Es gibt unter Medizinern immer noch konträre Auffassungen zu den Ursachen von ME/CFS. Viele Ärzte im Fachgebiet Psychiatrie und Psychosomatik verneinen einen organischen Grund, Immunologen und Patientenverbände dagegen sind hier komplett anderer Meinung. Manche Patienten negieren andererseits jeglichen Einfluss der Psyche, aus Angst vor Stigmatisierung. Wie sehen Sie selbst diesen Streit?

Bei fast allen mir bekannten Krankheitsgeschichten wird als Ursache etwas Physisches bzw. Organisches genannt bzw. diagnostiziert. Der Großteil der kundigen Fachwelt bezeichnet ME/CFS als neuroimmunologisch. Die Symptome sind primär physisch und nur sekundär und mit merklicher Verzögerung nach Krankheitsbeginn leidet durch Länge, Intensität und schlechter Heilungsquote auch die Psyche. Wichtig ist zu verstehen: ME/CFS ist das Gegenteil von Depression. Trotzdem halte ich persönlich Theorien für plausibel, wonach psychische Komponenten bei der Entstehung mit eine Rolle spielen können. Und ich sehe Wechselwirkungen zwischen Geist und Körper als erwiesen an. Jeder kennt ja bei anderen, einfacheren Krankheiten den Effekt, dass man in einer schwierigen oder sehr stressigen Zeit eher krank wird. 

Eine der ersten Touren mit dem E-Bike: Nur sechs Monate später, im Mai 2021, war der 37 Jährige am Ausee bei Schwandorf. Heute bezeichnet sich Schießl als weitgehend genesen.

5. Ihre Ärzte hatten den Mut, auch sogenannte „Off label“ Medikamente bei Ihnen einzusetzen, also Medikamente, die in Deutschland für diese Erkrankung oder Patientengruppe (noch) nicht behördlich zugelassen sind. Welche waren das und was haben sie bei Ihnen bewirkt?

Das stimmt, manche Ärzte hatten den Mut, aber recherchieren und überzeugen mussten wir sie selbst. Vor allem LDN (Low Dose Naltrexon, off Label) und das Neuroleptikum Abilify (Low Dose, off Label) haben bei mir außergewöhnliche Erfolge gezeigt. LDN hat mich vom Bett bis auf den Balkon bzw. in den Garten gebracht und mich so weit stabilisiert, dass ich wieder kurze Unterhaltungen führen konnte.

Abilify wirkt auf den Dopaminstoffwechel und verringert zudem die Neuroinflammation, also die Entzündung im Bereich des Gehirns, die laut einer kleinen Studie von Jared Younger bei allen 15 untersuchten ME/CFS Patienten vorhanden war. Das führte bei mir zu einer steilen Besserung, lässt sich aber leider nicht verallgemeinern. Immerhin erfahren aber rund 50% laut Umfrage eine nennenswerte Besserung, so dass die Wirksamkeit nun in einer offiziellen Studie untersucht werden soll.

Vor allem LDN (Low Dose Naltrexon, off Label) und das Neuroleptikum Abilify (Low Dose, off label) haben bei mir außergewöhnliche Erfolge gezeigt. (…) Immerhin erfahren (mit Abilify) aber rund 50% (der ME/CFS-Betroffenen einer Facebook-Gruppe) laut Umfrage eine nennenswerte Besserung, so dass die Wirksamkeit nun in einer offiziellen Studie untersucht werden soll.

6. Sie haben zusammen mit Ihrem Vater die Website www.cfsistkeineidylle.me gestaltet, in der Sie viele wichtige Informationen und Erfahrungen weitergeben, und teilen Ihre Heilungsgeschichte auch auf Instagram. War dieses Schreiben auch eine Art Therapie für Sie?

Aber ja. Einerseits Therapie für uns selbst, indem wir vergangene Schritte reflektierten und uns selbst für die Zukunft motivierten. Das Schreiben half mir dabei, wieder eine Art Selbstwirksamkeit zu erleben, also eigenständig dafür zu sorgen, Besserung zu erfahren und besser mit der Krankheit umgehen zu lernen. Andererseits ging es uns darum, Wissen und Hoffnung weiterzugeben.

Interview/Artikel: @Eulenreich2023 . Zu finden auf Instagram unter https://www.instagram.com/eulenreich2023/

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